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  Die Erklärung psychischen Geschehens – eine praktische Einführung in die Theoretische Psychologie

Dozent/in
Prof. Dr. Dietrich Dörner

Angaben
Vorlesung

Zeit und Ort: Mi 12:00 - 14:00, M3/-1.13

Inhalt
Wissenschaft betrifft das Neue, das Unerklärte, das Unverstandene. Das Unbekannte muss erklärt werden und wenn man dann eine Erklärung gefunden hat, muss man überprüfen, ob diese Erklärung auch richtig ist. Wissenschaft besteht im wesentlichen aus zwei Tätigkeiten, nämlich aus der Bildung von Theorien und aus der Prüfung von Theorien.
Eine Theorie ist nun nichts anderes als ein Gefüge von Aussagen; im wesentlichen und im Kern handelt es sich bei diesen Aussagen um die Angaben von kausalen Zusammenhängen. Wie kommt es, daß ein Theaterstück die öffentliche Meinung so stark berührt? Wie kommt es, daß die Wegnahme eines Elektrons dazu führt, daß sich zwei Atome miteinander verbinden? Seien es Geistes-oder Naturwissenschaften; letzten Endes geht es immer darum, daß man kausale Beziehungen sucht, die ein bestimmtes Geschehen erklären sollen.
In der Psychologie nun gibt es leider im Hinblick auf die kausalen Beziehungen große Schwierigkeiten. Denn ein Großteil der Phäno-mene, die uns in der Psychologie interessieren, ist nicht sichtbar, nicht direkt überprüfbar. Es kann mir zwar jemand erzählen, daß er diesen oder jenen Traum gehabt hätte, ob er ihn aber auch wirklich gehabt hat, kann ich "objektiv" kaum feststellen. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten für die Wissenschaft Psychologie; das, was da im Inneren der Seele geschieht, ist nicht direkt sichtbar, sondern immer nur indirekt, meist sehr indirekt.
Die Amerikaner machten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus dieser Not eine Tugend, indem sie den Behaviorismus erfanden und darauf bestanden, daß nur das Gegenstand der Psychologie sein könne, was direkt beobachtbar sei, nämlich das Verhalten. Und "Verhalten" ist eine Reiz – Reaktionssequenz. Nur wenn die Psychologie sich auf das Beobachtbare beschränkt, kann sie eine richtige Wissenschaft werden bzw. sein.
Viele Leute, denen sowieso das gesamte, schwammige Gerede über die Seele auf den Keks ging, fanden den behavioristischen Stand-punkt sehr attraktiv. Und bis zum heutigen Tage wird das Bekenntnis "Ich bin ein empirischer Psychologe!" mit Stolz ausgesprochen; man hebt sich auf diese Weise von all den Spinnern und Märchenerzählern und Psychoanalytikern ab, die sich auf dem weiten Feld der Psychologie tummeln.
Nur leider hilft das alles wenig, da es sehr, sehr, sehr, sehr schwer ist, Psychologie auf Reiz-Reaktions-Verknüpfungen zurückzuführen. Das sieht man schon bei einem groben Blick auf den Aufbau des zentralen Nervensystems. Wir haben in unserem Gehirn etwa 50 Millionen Neuronen, die direkt Informationen über die Außenwelt aufnehmen, also "Reize". Wir haben etwa 50,000 Neuronen, die durch Muskelkontraktionen und durch die Innervierung von Drüsen Reaktionen erzeugen. Das ist der sensumotorische Rand des Zentralnervensystems. Dieses besteht aber insgesamt aus 100-200,000,000,000 Neuronen. Wenn man nur den sensumotorischen Rand betrachtet, lässt man also mehr als 99.9 % des Zentralnervensystems unbeachtet. Um ein leichter zu verstehendes Beispiel zu wählen: man wird kaum viel über das Innere einer Uhr erfahren, wenn man nur die Zeiger betrachtet. Und noch nicht einmal über die Zeiger erfährt man auf diese Weise viel. Es empfiehlt sich schon, die Uhr auf irgendeine Art und Weise auseinander zu nehmen, um ihre inneren Funktionen zu studieren.
Nun kann man das menschliche Gehirn aus naheliegenden Gründen nicht auseinandernehmen und Zahnrad für Zahnrad studieren. Man kann aber über das, was man nicht sehen kann, theoretisieren. Letztenendes bedeutet das, daß man sich ein Bild macht über das Unsichtbare, daß man die "Seelenmechanik" theoretisch nachbaut.
Der "Empirizismus" hat leider in der Psychologie das Theoretisieren fast zu einer verbotenen Tätigkeit gemacht. ("Haltlose Spekulation!" - "Nicht empirisch untermauert!" – "Woher wollen Sie denn das wissen?") Wir haben keine theoretische Psychologie. Das ist aber nicht gut, sondern schlecht. Denn damit haben wir auch keine Begriffe. In der Tat sind so gut wie alle Begriffe der Psychologie schlecht oder gar nicht definiert; man weiß also gar nicht, was sie wirklich meinen und bedeuten. Man weiß nicht was Intelligenz ist, was ein Gefühl ist, was Denken ist, was Gedächtnis eigentlich ist, was Bedeutung bedeutet, usw. usw. Das alles könnte man nämlich nur wissen, wenn man Annahmen machte über das Unsichtbare, wenn man theoretisierte.
Wie aber soll man das tun? Für das Prüfen von Hypothesen und Theorien gibt es genügend Methoden und diese werden in der psychologischen Methodik auch gelehrt. Es wird die Verwendung statistischer Verfahren gelehrt und es wird gelehrt, wie man experimentiert. Es wird aber nicht gelehrt, wie man Theorien erstellt. Das ist deshalb der Fall, weil es für das Prüfen von Theorien lehrbare, schematisch anwendbare Verfahren gibt, nicht aber für die Bildung von Theorien.
So ist es dazugekommen, daß sich die Psychologie so gut wie aus-schließlich damit beschäftigt, Theorien oder Hypothesen zu prüfen. Eine "Theorienbildung" findet nur in der allerkümmerlichsten Form statt, indem man empirische Ergebnisse generalisiert. Dazu ein Beispiel und zwar ein sehr prominentes:
In dem bekannten Milgram-Experiment wurde untersucht, ob Men-schen unter dem Einfluß von Autorität bereit sind, anderen Menschen schwere Leiden zuzufügen. (Die Versuchspersonen dienten als "Versuchsleiter" in einem Versuch, in dem "scheinbare" Versuchspersonen (die in Wirklichkeit Schauspieler waren) für Fehler in Lernexperimenten durch Elektroschocks bestraft wurden. Eine relativ große Anzahl von Versuchspersonen (ca 20%) war bereit, diese Bestrafungsaktionen auch mit sehr gefährlichen Stromstärken durchzuführen, die den "Vpn" erhebliche Schäden zufügten (bzw. zuzufügen schienen).
Was kann man daraus ableiten? Durch Generalisierung kommt man zu dem theoretischen Satz:
Wenn man Menschen unter Autoritätsdruck setzt, sind etwa 20% der Menschen bereit, Grausamkeiten zu begehen. Was ist zu diesem Satz zu sagen? Zweierlei:
1. Der Inhalt dieses Satzes ist ziemlich dürftig. Man wüßte gern mehr. Z.B. welche 20% das sind. Was eigentlich ist die Motivation für die Grausamkeit. Gibt es Bedingungen, in denen mehr als 20 % anderen schwere Leiden zuzufügen bereit sind? Unter welchen Umständen werden es weniger? Auf diese Fragen gibt das Milgram-Experiment keine Antworten.

2. Es erscheint mir sehr fraglich, ob man den oben genannten theoretischen Satz wirklich aus dem Milgram-Experiment ableiten kann. Ich zum Beispiel würde ohne alle Hemmungen in einem Experiment in einem deutschen psychologischen Institut den "Versuchspersonen" die maximalen "Schäden" zufügen. Nicht etwa, weil ich so besonders sadistisch veranlagt bin, sondern weil ich genau wüßte, daß ein solches Experiment schlicht und einfach in der Realität unmöglich wäre. Ein Professor, der es erlauben würde, Versuchspersonen 400-Volt-Schläge zuzufügen, würde spätestens 2 Stunden nach dem Beginn der Untersuchungen im Knast sitzen. Und der Universitätspräsident dazu. Ich würde mir also einen Spaß daraus machen, den Versuchsleiter mit genau den Resultaten zu beliefern, die er anscheinend haben möchte. Mein Verhalten würde also nicht auf meiner Autoritätshörigkeit oder Sadismus basieren, sondern auf dem Spaß daran, dummen Experimentalpsychologen ihre Ergebnisse zu verderben. (Das ist natürlich auch eine Art von Bosheit, aber vielleicht nicht richtig böse.) – Meines Wissens ist noch niemals in Betracht gezogen worden, ob die Versuchspersonen, die an dem Milgram-Experiment teilnahmen, das Experiment überhaupt ernstnahmen. Die "Empirie" ist heilig und unantastbar, ist eben wie sie ist.
Im übrigen kann man sich auch fragen, warum diese Milgram Experimente überhaupt gemacht wurden. Daß Menschen bereit sind, anderen Qualen und Leiden zuzufügen kann man ohne weiteres der Geschichte der letzten 10,000 Jahre entnehmen; eigentlich braucht man das nicht mehr nachzuweisen.
Über die Bedingungen von Grausamkeit kann man mehr erfahren durch das Studium des Buches von Browning "Ganz normale Män-ner", in dem geschildert wird, auf welche Art und Weise die Männer eines deutsches Polizeibataillon in Polen sich zum Teil zu fanatischen Judenkillern entwickelten. Die Autoritätshörigkeit spielte hier kaum eine Rolle.
Das Finden von Erklärungen ist kreatives Denken und das ist eben gerade nicht schematisch oder schematisierbar. Und deshalb kann man es nicht so lehren, wie die Verwendung des T-Tests oder der Varianzanalyse. Dennoch aber kann man es üben, indem man sich immer wieder daran versucht, menschliches Handeln nicht nur zu Kenntnis zu nehmen, sondern es zu erklären.
In dieser Veranstaltung wollen wir uns solche Prozesse der Interpretation von menschlichem Handeln genau ansehen. Und wir wollen daraus auch Vorgehensweisen entwickeln, wie man zu Erklärungen kommt. Und wir wollen auf diese Weise untersuchen, wie man ganz allgemein Psychologie betreiben sollte. Wir machen also praktische Wissenschaftstheorie für die Psychologie.
Wir wollen beginnen mit dem Verhalten der Deutschen im letzten Jahr des zweiten Weltkrieges. Es gibt hier ein Buch "Das Ende" von dem britischen Historiker Ian Kershaw. Dies beschreibt sehr viele Verhaltensepisoden von Menschen in sehr schwierigen Situationen. Wir wollen versuchen, für das Verhalten dieser Menschen psychologische Erklärungen zu finden. Das ist nicht gerade "positive Psychologie", dafür aber wichtig und interessant.
Sie können sofort einmal mit der Theoriebildung anfangen; das Buch von Ian Kershaw beginnt mit einer Episode, die sich in der Stadt Ansbach im April 1945 abspielte.
Versuchen sie einmal herauszufinden, warum die Akteure der nachfolgenden Geschichte (die ein wahres Ereignis schildert) so handelten, wie sie handelten.

Untergang in Flammen
Mittwoch, d.,8. April i945: Amerikanische Truppen stehen vor den Toren von Ansbach, dem Mittelpunkt des bayerischen Regierungs bezirks Mittelfranken. Der Kreisleiter der NSDAP ist in der Nacht geflohen, die meisten deutschen Soldaten sind nach Süden verlegt worden und die Einwohner sind seit Tagen in Luftschutzkellern untergebracht. Jeder rationale Gedanke rät zu Kapitulation. Doch der Kampfkommandant der Stadt, Dr. Ernst Meyer, ein 50-jähriger Oberst der Luftwaffe, der in Physik promoviert hat, ist ein fanatischer Nationalsozialist, der darauf besteht, bis zum Ende zu kämpfen. Der 19-jährige Theologiestudent Robert Limpert, der kriegsuntauglich ist, beschließt zu handeln, um zu verhindern, dass seine Stadt in einer sinnlosen Schlacht bis zum letzten Atemzug zerstört wird. Einen Monat zuvor hatte Limpert miterlebt, wie die schöne Stadt Würzburg von alliierten Bomben völlig verwüstet worden war. Das hatte ihn zu dem gefährlichen Wagnis veranlasst, Anfang April Flug- blätter zu verteilen, in denen er dafür plädierte, Ansbach mit seinen immer noch unversehrten malerischen Barock- und Rokokobauten kampflos zu übergeben. Jetzt geht er ein noch größeres Risiko ein. An diesem schönen Frühlingstag trennt er vormittags gegen 11 Uhr die Telefondrähte durch, die, wie er glaubt, den Gefechtsstand des Kom- mandanten mit der Wehrmachtseinheit vor der Stadt verbinden - ein allerdings vergeblicher Sabotageversuch, da der Gefechtsstand, was er nicht weiß, gerade umgezogen ist. Zwei Hitlerjungen beobachten ihn dabei. Sie melden, was sie gesehen haben, der Polizeiwache im Rathaus, und dort nimmt man sich sogleich der Sache an. Ein Polizist wird zu Limperts Wohnung geschickt, wo er entdeckt, dass der junge Mann eine Pistole und belastendes Material besitzt, und verhaftet ihn. Die Ortspolizei meldet die Verhaftung dem Leiter der noch ver- bliebenen Zivilverwaltung in Ansbach, welcher den Kampfkomman- danten anruft, der sich gerade nicht in der Stadt aufhält. Wie nicht anders zu erwarten, empört sich der Kommandant über den Vorfall, eilt zur Polizeiwache und setzt sogleich ein Standgericht ein, das aus dem Kommandanten der Schutzpolizei, dessen Stellvertreter und dem Meldegänger des Kommandanten besteht. Nach einem »Pro- zess«, der eine Farce ist und nicht länger als ein paar Minuten dauert und bei dem der Angeklagte sich nicht verteidigen darf, verkündet der Kommandant das Todesurteil, das auf der Stelle zu vollstrecken sei. Als man Limpert am Tor des Rathauses eine Schlinge um den Hals legt, gelingt es ihm, sich loszureißen und das Weite zu suchen, aber nach hundert Metern erreichen ihn die Polizisten, treten ihn, ziehen ihn an den Haaren und schleppen den Schreienden zurück. Keiner aus der Menschenmenge, die sich versammelt hat, rührt einen Finger, um ihm zu helfen. Von einigen wird er vielmehr ebenfalls geschlagen und getreten. Auch jetzt ist sein Elend noch nicht vorüber. Wieder wird ihm die Schlinge um den Hals gelegt, und er wird gehängt. Doch der Strick reißt, und er fällt auf das Pflaster. Erneut wird ihm die Schlinge um den Hals gelegt, und schließlich zieht man ihn auf dem Rathausplatz hoch, bis er stirbt. Der Kommandant befiehlt, die Leiche hängen zu lassen, bis sie »stinke«. Kurz darauf requiriert er offenbar ein Fahrrad und flieht sogleich aus der Stadt. Vier Stunden später marschieren die Amerikaner in Ansbach ein, ohne dass ein Schuss abgefeuert wird, und schneiden den Leichnam von Robert Limpert vom Strick herunter. Kershaw, Ian: Das Ende. S. 19 - 20

Institution: Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie

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