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Europäische und globale Studien: Russland: Soziologische und historische Annäherungen

Dozent/in
Prof. Dr. Elmar Rieger

Angaben
Seminar
4 SWS
Zeit und Ort: Fr 8:00 - 12:00, F21/03.81

Voraussetzungen / Organisatorisches
Anmeldung:
Bitte melden Sie sich bis zum 25.04.22 über FlexNow zu der Veranstaltung an. Bitte wenden Sie sich zusätzlich dazu bis zum 25.04.2022 per E-Mail an Herrn Prof. Rieger. Er wird Sie dann in eine Verteilerliste eintragen und Sie erhalten hierüber alle Informationen zur Lehrveranstaltung.

Geeignet für:
MA Soziologie Modul MASOZ-EGS3 Europäische und globale Studien
Nebenfach Soziologie in Masterstudiengängen

Inhalt
"Es ist jedoch die Zeit gekommen, da Russland nicht zu kennen zur Bedrohung für unsere Sicherheit wird. Jetzt müssen wir endlich verstehen, welche grundlegenden Ursachen dieses riesige Imperium dazu brachte, die eigenen Grenzen zu verlassen und es zwangen, den Rest der Welt empfindlich zu bedrängen. Allzu lange schoben wir das auf eine ehrgeizige Politik, auf ein tief durchdachtes System, dabei haben wir es hier – wie wir noch sehen werden – mit einer natürlichen Folge mehrerer, ganz andersgearteter Ursachen zu tun. Wie immer – ob es sich nun um das Phänomen einer politischen, sittlichen oder geographischen Ordnung handelt –, wir dürfen auf keinen Fall länger auf seine gründliche Untersuchung und den Versuch verzichten, Russland selber – sofern dies überhaupt möglich ist – vor Augen zu führen, dass es jedesmal dann dem Untergang nahe war, wenn es sich in direkten Gegensatz zu den alten zivilisierten Rassen brachte, deren Macht tausendmal mehr auf kontinuierlichem und beharrlichem geistigen Bemühen denn auf materieller Stärke beruht, und dass eben dieser ihrer geistigen Arbeit Russland alles zu verdanken hat, sein eigenes Nationalgefühl eingeschlossen, mit dem es sich brüstet und das es jetzt gegen uns selbst kehrt."

Diese Sätze von Peter Tschaadajew aus dem Jahr 1854 machen darauf aufmerksam, dass seit langem Russland sich selbst ein Rätsel ist und die Welt vor Rätsel stellt. Was Tschaadajew forderte ist im Grunde nichts anderes als Soziologie – wenn Soziologie als Selbstverständigung und damit als zentrale Bedingung der Selbstbestimmung von Gesellschaft verstanden wird. Diese Soziologie hat es freilich weder im alten Russland noch in der Sowjetunion gegeben, und inzwischen ist auch wieder im postsowjetischen Russland weitgehend ausgelöscht worden. Masha Gessen hat die Problematik so gefasst: "Das Sowjetregime hat den Menschen nicht nur die Möglichkeit genommen, frei zu leben, sondern auch die Fähigkeit, wirklich zu verstehen, was ihnen vorenthalten wurde und wie das geschah. Es wollte die persönliche und historische Erinnerung ebenso auslöschen wie die wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft. Der geballte Krieg gegen die Sozialwissenschaften hatte zur Folge, dass westliche Wissenschaftler jahrzehntelang besser in der Lage waren, Russland zu interpretieren, als die Russen selbst. Sie konnten das Defizit jedoch nicht ausgleichen, da sie als Außenstehende nur beschränkt Zugang zu Informationen hatten. Das alles schadete nicht nur der Wissenschaft, es war vor allem ein Angriff auf die humane Verfasstheit der russischen Gesellschaft. Denn diese wurde dadurch der Werkzeuge und sogar der Sprache beraubt, die sie benötigte, um sich selbst zu verstehen. Die einzigen Geschichten, die Sowjetrussland sich über sich selbst erzählte, stammen von sowjetischen Ideologen. Was kann ein modernes Land über sich selbst wissen, wenn ihm weder Soziologen noch Psychologen, noch Philosophen zur Verfügung stehen? Und was können seine Bürger über sich wissen?"
Der Ausgangspunkt des Seminars ist die Frage nach der Modernität Russlands, also die Frage, welche Art von Gesellschaft, sozialer Ordnung und kultureller Identität in Russland angestrebt und zu verwirklichen versucht wurde – und welche Grenzen ihr dabei gesetzt und welche Gegenkräfte mobilisiert wurden. Das ist auch die Frage nach den Trägern der geistigen Auseinandersetzung über das moderne Russland als ein Land zwischen Westen und Osten. Tatsächlich ist die Formierung einer Intelligentsia, die mit den Mitteln der Literatur und der Literaturkritik eine soziologische Bestimmung der Eigenart Russlands zwischen Osten und Westen und der Zukunft seines Gesellschaftsmodells zu leisten versucht, ein regelmäßiges Phänomen im Streit um die Modernisierung Russlands. Den Schwerpunkt der Literatur, die im Seminar benutzt wird, werden die Russlandbilder der Intelligentsia und die Beiträge russischer Soziologen und Intellektueller bilden.

Im Einzelnen werden folgende Fragen und Themen im Seminar behandelt:
  • Warum soll sich die Soziologie mit Russland auseinandersetzen? Welche Rolle spielt Russland in der Entwicklung der Soziologie?

  • Ist Russland tatsächlich ein Sonderfall der Modernisierung und Rationalisierung? Aus welchen Gründen sind die Versuche einer Modernisierung nach westlichem Muster immer wieder abgebrochen worden?

  • Welches Zivilisationsprojekt wird in Russland verfolgt? Welche Gesellschaftsbilder wurden dabei prägend? Aus welchen Quellen werden die Russlandbilder gespeist?

  • Bietet der alte (und immer wieder neu aufflammende) Streit zwischen "Westlern" und "Slawophilen" einen Schlüssel für das Verständnis der Eigenart der russischen Gesellschaft?


  • Sind historisch begründete Pfadabhängigkeiten der Grund für die Wiederkehr von Totalitarismus und Autokratismus?

  • Wie hängen die innere Destabilisierung von Sozialstrukturen und Mentalitäten mit der aggressiven und destruktiven Außenpolitik zusammen?


Ein Leistungsnachweis (10 ECTS) kann über das regelmäßige Verfassen kleinerer Essays erreicht werden.

Empfohlene Literatur
Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor, Berlin: Suhrkamp, 2020 (Taschenbuchausgabe – amerikanische Originalausgabe 2017).

Englischsprachige Informationen:
Title:
European and global studies: Russia: Sociological and Historical Approaches

Zusätzliche Informationen
Erwartete Teilnehmerzahl: 30

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